Montagmorgen...

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Montagmorgen...

Die in dieser Geschichte erwähnten Personen und Ereignisse sind nicht frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen ist absolut nicht zufällig.

Es ist Montagmorgen. Frank, im Begriff, vom Frühstückstisch aufzustehen:

"Ach übrigens... Wenn Du innerhalb der nächsten halben Stunde eine laute Explosion aus südwestlicher Richtung hörst, begleitet von einem hellen Blitz, mach' Dir keine Gedanken. Das ist nur, weil ich den Supermarkt ausradiert habe."

Sofort wechselt der Gesichtsausdruck seiner Frau in ein tief empfundenes Mitleid.

"Wieder ein Paket, Liebling?"

Frank, grummelnd, mit dem Gesichtsausdruck eines römischen Gladiators unmittelbar vor seiner ersten Begegnung mit den Löwen:

"Ja, wieder ein Paket!"

"Na dann... viel Glück!"

Da der Eindruck, daß sich die Mundwinkel seiner Frau einen Zehntelmillimeter in Richung eines kaum unterdrückten Schmunzelns bewegt haben, vermutlich kein hinreichender Scheidungsgrund ist, ist alles, was Frank antwortet, ein kurzes "Danke", gefolgt von einem genauso kurzen "Tschüß".

"Tschüß, Liebling. Viel Glück!"

Auf der Straße beschäftigt Frank alle Gehirnzellen, die nicht zum Fahren gebraucht werden, mit dem Versuch, sowohl sein Bewußtsein als auch sein Unterbewußtsein davon zu überzeugen, daß diesmal alles gut gehen wird. Obwohl sein örtliches Postamt im letzten Jahr geschlossen und durch einen Schalter im örtlichen Supermarkt ersetzt wurde. Gleich neben dem Gemüsestand. Besetzt mit einer nicht enden wollenden Vielfalt ehemaliger Supermarktangestellter.

Frank betritt den Supermarkt und geht zum Schalter neben dem Gemüse. Während die Dame hinter dem Schalter einen Kunden bedient, der versucht, Briefmarken zu kaufen, hat er hinreichend Gelegenheit, zu beobachten, wie Zwiebeln und Möhren neu aufgefüllt werden. Dann ist er an der Reihe.

Frank, fröhlich: "Guten Morgen!"

Die Dame hinter dem Schalter, mit einer Miene, als wäre sie vor kurzem gezwungen worden, eine Zitrone zu essen: "rgen!"

"Ich möchte das in die Vereinigten Staaten schicken. Versichert. Wäre das als Päckchen möglich?"

Frank ist sich selbstverständlich völlig darüber im klaren, daß Päckchen selbst dann nicht versichert werden können, wenn sie innerhalb Deutschlands verschickt werden. Diese Frage ist seine Standarderöffnung, um sich ein Bild über die Qualifikation seines Gegners zu machen.

"Hmmm... Päckchen können nicht versichert werden. Selbst dann nicht, wenn sie innerhalb Deutschlands verschickt werden."

Offenbar arbeitet die Dame seit mehr als einem Tag hinter diesem Tresen. Wer weiß, vielleicht wird es diesmal...

"Ok, dann bleibt uns nur ein Maxibrief, nehme ich an?"

Die Dame legt die Sendung auf eine Waage und beäugt sie mißtrauisch. Frank hat den Eindruck, daß ihr die Tatsache, daß die Summe von Länge, Breite und Höhe von Maxibriefen 90 Zentimeter betragen darf, nicht bewußt ist. Genauso wenig wie die Tatsache, daß kleine Kartons als Maxibrief durchaus erlaubt sind, so lange diese Maße nicht überschritten werden.

"Das ist kein Brief!"

"Warum nicht?"

"Er ist zu groß!"

"Verzeihung, aber die Summe von Länge, Breite und Höhe von Maxibriefen darf 90 Zentimeter betragen."

Die Dame beginnt energisch, auf ihrer Tastatur herumzutippen.

"Oh. Sie haben recht."

Weiter nichts, nur ein lächerliches "Sie haben recht". In Anbetracht der Tatsache, daß Frank gerade Informationen übermittelt hat, die der weiteren Karriere der Dame möglicherweise höchst förderlich sein können, hätte Frank einen Ausdruck von Dankbarkeit angemessen gefunden.

In der Zwischenzeit beobachtet die Dame weiterhin den Karton auf der Waage. Vielleicht hofft sie, daß er im Laufe der Zeit um jene 176 Gramm an Gewicht zunehmen wird, die ihn schwerer machen würden als die für Maxibriefe erlaubten zwei Kilogramm. Da dies offensichtlich innerhalb eines Zeitraumes, den abzuwarten es sich lohnen würde, nicht zu passieren scheint, fängt die Dame wiederum an, ihre Tastatur zu attackieren.

"Sie können keinen versicherten Brief in die Vereinigten Staaten schicken."

"Äh... warum nicht, bitte? In Ihrer Preisliste steht, daß die Versicherung international versandter Briefe 3 DM für jede 200 DM Versicherungssumme kostet?"

"Ja, aber..."

"Und letzte Woche konnte ich ohne Probleme einen versicherten Brief nach England schicken?"

"... ich kann es im Computer nicht finden!"

"Aber..."

"Ah! Hier! Hier unten steht .......... Nicht in alle Länder möglich!"

"Ich verstehe. In welche Länder, bitte, kann man denn von Deutschland aus versicherte Briefe verschicken?"

"... ich kann es im Computer nicht finden!"

"Genauso wenig, wie ich es in Ihrer Preisliste finden konnte. Heißt das, daß der einzige Weg, um herauszufinden, ob ich einen versicherten Brief in ein bestimmtes Land schicken kann, ist, hierher zu kommen und zu hoffen, daß Sie es in Ihrem Computer finden?"

"..."

Frank beginnt, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Tief und gleichmäßig. Ein und aus. Ein und aus. Tief und gleichmäßig. Nach einiger Zeit verschwindet das wilde Verlangen, über den Tresen zu springen und etwas Furchtbares zu tun.

Ein unterdrücktes Kichern ist von hinten vernehmbar. Frank dreht sich um. Etwa 10 Leute stehen hinter ihm an, alle mehr oder weniger offen grinsend. Das könnte möglicherweise sowohl die steigende Nervosität der Dame als auch die Tatsache, daß sich auf ihrer Stirn seit einiger Zeit kleine Schweißtröpfchen bilden, erklären.

Mit übermenschlicher Anstrengung schafft Frank es, höflich zu bleiben.

"Also gibt es keinen Weg, etwas versichert in die USA zu schicken?"

"Oh doch, den gibt es!"

Nach einigen Sekunden verwirrten Wartens wird Frank klar, daß die Dame freiwillig keine weiteren Informationen über dieses Thema weiterzugeben gedenkt.

"Und welche Versandform wäre das, bitte?"

"Ein Wertpaket."

"Hm... Wieviel würde das kosten?"

Nach kurzer weiterer Tastaturattacke verkündet die Dame den Preis. Da besagter Preis nicht ihre Schuld ist, tut Frank sein Bestes, um einen hysterischen Lachkrampf zu unterdrücken. Es wäre weit billiger, dem Empfänger den Neupreis zu erstatten, falls der Brief verloren ginge.

Da die Schlange hinter ihm mittlerweile bei den Tomaten angekommen ist und er darüber hinaus in einer Besprechung erwartet wird, die 40 Minuten und 35 Kilometer von seinem jetzigen Aufenthaltsort entfernt stattfinden soll, entscheidet Frank, daß diese Situation irgendeine Abkürzung erfordert.

"Also, ich glaube, das ist im Moment keine Alternative. Also wird es doch ein Päckchen werden. Wieviel wird das kosten?"

"DM 19,00."

"Ok, das hört sich gut an."

KlickediKlick. Klick. KlickediKlickediKlickediKlick. Löschen. Klick? Löschen. LöschenLöschenLöschen. Klick!

"Wollen Sie Eilzustellung?"

"Wieviel würde das extra kosten?"

"DM 4,00."

"Prima, dann möchte ich Eilzustellung!"

Die Dame, offensichtlich erleichtert, daß sie zur Abwechslung etwas Hilfreiches anzubieten hatte, beginnt eifrig, weiterzuklicken.

"Möchten Sie es als Einschreiben verschicken?"

Frank, auf die unwahrscheinliche Möglichkeit hoffend, daß der Dame sein immenses Interesse an Preisen mittlerweile aufgefallen sein könnte, antwortet nicht gleich. Diese Kommunikationslücke ermöglicht es ihm, zu erkennen, daß die Leute, die außer Hörweite in der Schlange stehen, deutliche Anzeichen von Feindschaft ihm gegenüber erkennen lassen. Genau wie die Kunden, die erfolglos versuchen, den Brotstand zu erreichen, der mittlerweile vollkommen von der Schlange blockiert wird.

"Wieviel würde das extra kosten?"

KlickediKlick. Klick. Löschen.

"DM 3,00."

"Hört sich gut an."

KlickKlickKlickLöschen.

"Möchten Sie das Einschreiben mit Rückschein verschicken?"

Ein und aus. Langsam und gleichmäßig. Frank versucht, so gut er kann, alles, was im entferntesten mit Briefzustellung zu tun hat, für einen Moment zu vergessen, und beginnt statt dessen, sich ausschließlich auf Schönes und Friedliches zu konzentrieren.
Der stetig steigende Wutpegel hinter ihm bringt ihn jedoch nach einigen Sekunden friedlichen Wanderns durch die Regenwälder Neuseelands zurück auf den Boden der Tatsachen.

"Wieviel würde das extra kosten?"

"DM 3,00."

"Ok, prima!"

KlickediKlickediKlick. Löschen. KlickKlick.

"So... Das macht zusammen DM 44,00."

"Äh... Verzeihung, aber... DM 19,00 für das Päckchen plus DM 4,00 für Eilzustellung plus DM 3,00 für das Einschreiben plus DM 3,00 für den Rückschein sollten zusammen so etwa DM 29,00 sein, oder?"

"DM 19,00 ist nur für Sendungen bis zu einem Kilogramm Gewicht."

Plötzlich breitet sich im hinteren Bereich von Franks Hals deutlich spürbar Feuchtigkeit aus. Das ist die Folge des Umstandes, daß der Mann in der Schlange hinter ihm die Selbstbeherrschung verloren hat. Hysterisch kichernd versucht er zur gleichen Zeit, den Mund geschlossen zu halten, was ihm ein leicht behindertes Aussehen verleiht. Sein plötzlicher Heiterkeitsausbruch ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, daß seit geraumer Zeit in leuchtend grünen Ziffern die Zahl "1,824 kg" im Display der Waage zu lesen ist.

Was den feuchten Hals angeht, der stört Frank nicht. Genauso wenig wie die Schlange hinter ihm, obwohl ein scheuer Blick über die Schulter zeigt, daß sie mittlerweile am Eingang angekommen ist, was es unmöglich macht, ihre wirkliche Länge abzuschätzen. Alles ist plötzlich irgendwie unwirklich geworden. Frank schwebt über der Szene, herunterblickend auf sich, die Dame und die Waage, deren grüne Ziffern spöttisch funkeln. Alle Geräusche sind gedämpft, so wie damals, als er als kleiner Junge in der Badewanne tauchen übte. Alle Farben sind heller und leuchtender. Es gibt nicht viele Dinge heutzutage, die unwichtiger sind als Pakete, Waagen oder Damen. Welch ein perfekter Tag zum Wandern.

"Hallo? Mein Herr?? Geht es Ihnen gut, mein Herr?"

Während Frank sich widerwillig, Zentimeter um Zentimeter, zurück in die grausame Wirklichkeit begibt, entscheidet der Kunde hinter ihm unerwartet, ihm zur Hilfe zu kommen.

"Hören Sie, meine Dame, ich versichere Ihnen, daß ich bis vor einer Minute dieses Theaterstück außerordentlich genossen habe. Unglücklicherweise ist das Genießen von Theaterstücken nicht das, wofür ich bezahlt werde. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Paket dieses Herrn in absehbarer Zeit sein Gewicht nicht erhöhen. Würden Sie also BITTE endlich dafür sorgen, daß es auf den Weg kommt, damit ich meine Briefmarken kaufen kann, ohne entlassen zu werden?"

Stille. Dann mehr Stille.

Die Dame dreht langsam den Kopf, um die Quelle dieser unerwarteten Einmischung zu mustern - dies aber weder ärgerlich noch ungehalten. Tatsächlich wirkt sie eher lammfromm und unterwürfig. Vielleicht ist Franks ständige Höflichkeit von vornherein keine gute Idee gewesen. Es gibt solche Leute. Leute, mit denen man besser klarkommt, wenn man sie herablassend und voller Selbstbewußtsein anspricht.

"Also... natürlich, mein Herr. Wir werden uns umgehend um Ihre Briefmarken kümmern. Tut mir leid, daß Sie warten mußten! Das sind dann DM 35,00, mein Herr."

Es dauert einige Sekunden, bis Frank klar wird, daß der zweite Satz der Dame an ihn gerichtet war und nicht an den Herrn hinter ihm. Ohne ein Wort zieht er seine Brieftasche. Sicherheitshalber sucht er den genauen Betrag zusammen. Irgendeinen Wechselgeldbetrag auszurechnen, ganz zu schweigen von dem richtigen, könnte sich als eine Herausforderung erweisen, der die Dame nicht gewachsen ist. Warum also ein Risiko eingehen.

KlickediKlick. Klick.

"Was?!" LöschenKlick. "Ach so, ja!"

Ein Aufkleber wird gedruckt. Schweigend und effizient klebt die Dame diesen auf das Paket. Dann öffnet sie eine Schublade, holt eine Liste heraus, legt sie auf den Tresen und beginnt, sie genauestens zu untersuchen. Dabei runzelt sie die Stirn und bewegt ihre Zungenspitze mit beeindruckender Geschwindigkeit zwischen Unter- und Oberlippe.

Frank kennt diese Liste, und er hat gelernt, sie zu hassen. Sie enthält Anweisungen dafür, wie man verschiedene Portostufen mit so wenig Briefmarken wie möglich erreicht. Frank, der einst auf die harte Tour lernen mußte, daß es eine äußerst schlechte Idee ist, jemanden zu unterbrechen, der gerade in diese Liste vertieft ist, vertreibt sich die Wartezeit mit der Überlegung, ob Nicht-Erscheinen bei einer Besprechung, die er organisiert hat und moderieren soll, irgendeinen negativen Einfluß auf seine Karriere haben könnte.

Plötzlich folgt dem Aufkleber eine beeindruckende Reihe von Briefmarken. Die Tatsache, daß der Gesamtwert dieser Marken weder dem Preis entspricht, den die Dame gerade erwähnt hat, noch irgendeiner Frank bekannten Portostufe, erzeugt in ihm ein wachsendes Gefühl von Panik.
Da die Dame mit dem, was er schließlich bezahlt, jedoch zufrieden zu sein scheint, ersetzt unendliche Erleichterung das Gefühl der Panik. Der Hinweis, daß die Dame gerade einen Luftpostaufkleber auf das Paket klebt, obwohl Frank nur für den Land/Seeweg bezahlt hat, wäre dieser Erleicherung sicherlich nicht förderlich, deshalb unterläßt Frank ihn sicherheitshalber.

Genau genommen interessiert es ihn nicht mehr, ob das Paket den Empfänger jemals erreicht oder nicht. Oder ob morgen die Welt untergeht. Das Einzige, was ihn gegenwärtig interessiert, ist, so schnell wie möglich hier herauszukommen und seinen normalen Geisteszustand wieder einzuholen, der gerade noch so am Horizont erkennbar ist.

"Ähm... Mein Herr? Mein Herr?!?"

Es dauert eine kleine Weile, bis es Frank, rüde unterbrochen in der angenehmen Vorstellung, wie man es anstellen könnte, damit es wie ein Unfall aussieht, dämmert, daß eine männliche Stimme von hinter ihm auf keinen Fall der Dame gehören kann.

"Mein Herr? Ich glaube, Sie sind fertig!"

Frank sieht die Dame fragend an. Eine Augenbraue hochziehend, nicht glaubend, daß er wirklich solch ein Glück haben kann.

Die Dame nickt, gütig lächelnd. "Ihr Paket ist praktisch schon angekommen, mein Herr."

"Vielen, vielen Dank!"

So müssen sich Leute fühlen, die auf dem Gipfel des Mount Everest stehen, nachdem sie diesen barfuß und ohne Atemgerät erklommen haben. Mit erhobenem Kopf geht Frank zum Eingang, die feindlichen Blicke und gezischelten Beleidigungen der Leute in der Schlange selbstbewußt ignorierend. Wenn man gerade einen Krieg gewonnen hat, haben solche Kleinigkeiten die Tendenz, absolut unwichtig zu werden. Als er an der jungen Frau am Ende der Schlange (weit hinter dem Eingang) vorbeikommt, informiert er sie und ihre mürrisch dreinblickende halbwüchsige Tochter, daß der Stau sich vor einer Minute aufgelöst hat und sie erwarten kann, in spätestens zwei Stunden an der Reihe zu sein. Überraschenderweise scheint sie diese Nachricht nicht als die gute Neuigkeit anzusehen, die sie tatsächlich ist.

Leise pfeifend geht Frank zurück zu seinen Auto. Welch ein seltener Glücksfall, daß heute alles so schnell und reibungslos ging. Wenn man bedenkt, wie es beim letzten Mal ablief, gibt es keinen Zweifel: Heute muß sein Glückstag sein.

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